Der international gefeierte Komponist und Pianist Leon Gurvitch im Gespräch: Im zweiten Teil des Interviews geht er auf sein großes Projekt “Bachomania” ein.
Leon Gurvitch ist ein preisgekrönter Komponist und Pianist aus Belarus, der die Hansestadt Hamburg vor langer Zeit zu seiner Wahlheimat gemacht hat. Bereits Anfang März wurde der erste Teil seines Interviews hier auf Fall4Me im Zuge seiner Kammeroper “Charms” (bald auch auf Fall4Me) veröffentlicht. Nun bekommt ihr und bekommen Sie den zweiten Teil des Interviews zu lesen. Hier geht er mehr auf Musik als Beruf ein und spricht über sein großes Projekt “Bachomania”.
Dein Nachname Gurvitch, wie du schon gesagt hast, kommt aus Belarus. Das hat sich auch für mich so aus dem Raum angehört. Dieses Land ist bekannt für seine weitverbreitete Affinität zu Kunst, Kultur und Musik. Wurdest du dahingehend „erzogen“ oder kam das von dir selbst?
Ja, es gibt das gute Vorurteil, dass Menschen, die aus Russland, Belarus oder der Ukraine kommen, eine besondere Affinität zur Musik haben. Es kommt wahrscheinlich dadurch, dass diese Menschen, dieses Genre anders wahrnehmen, nicht nur als Hobby, sondern als Beruf und ziemlich ernst nehmen. So war das auch in meinem Fall und es gibt eine bestimmte Portion von Idealismus bei dieser ganzen Musikbeschäftigung. Man denkt erstmal nicht an die Karriere und das Geld, sondern es geht darum, wie du dich selbst als Musiker perfektionieren oder verbessern kannst. Das ist ein wichtiger Teil des Lebens und spielt eine große Rolle. So kann man sagen, dass ich in dieser Atmosphäre erzogen wurde.
Die New Yorker Carnegie Hall, die Berliner Philharmonie, das Gewandhaus in Leipzig, die Elbphilharmonie — du hast international schon viele Bühnen erobert. Was würdest du sagen, war dein Durchbruch?
Oh, das ist sehr subjektiv. Ich weiß es nicht. Das können Leute von außen besser sehen. Wenn ich sage „das war mein Durchbruch“ sieht das manch anderer vielleicht nicht so. Von meinem persönlichen Empfinden würde ich sagen, die weltberühmte Carnegie Hall. Das ist nicht nur bei mir so, sondern gilt wohl für alle Musiker der Welt, die das als großen Meilenstein bezeichnen.
In New York: If you can make it there you can make it anywhere.
Genau (lacht). In diesem Sinne geht man von einem Schritt zum Nächsten und hofft, dass es immer bergauf mit einem geht, d.h. jeder weitere und nächste Auftritt ist ein Durchbruch. Für mich ist das aber auch nicht so wichtig. Ich denke nicht über einen Durchbruch nach. Ich denke darüber nach, dass wenn ich spiele, ich den Leuten etwas zurückgeben kann und wenn da etwas hängen bleibt und diese Leute nochmal zu meinem Konzert kommen, das ist schon ein wichtiges Symbol.
In der kommenden Zeit hast du viele Konzerte in New York, Wien, aber auch in Hamburg und Lübeck, was fasziniert dich an der Hanse und an Norddeutschland?
Es hat sich so ergeben, dass ich am 26. April in der Laeiszhalle in Hamburg mein neues Programm gewidmet an Johann Sebastian Bach spielen werde. Außerdem gibt es in der Staatsoper am 07. März meine Kammeroper “Charms”, die leider oder Gott sei Dank schon ausverkauft ist. [Die Oper hat bereits stattgefunden, das Interview wurde im Vorfeld von “Charms” geführt; Anm. d. Redaktion]. Aber am 07. Mai können die Leute nach Lübeck kommen und sich das nochmal ansehen. Dort laufen diese Saison mehrere Projekte und Produktionen. Beispielsweise kommt am 29. März ein Ballett von mir, welches “Kintsugi“ heißt und von einem guten Freund von mir choreografiert wurde. Er ist ein sehr talentierter Choreograf und Solotänzer bei John Neumeier Hamburg Ballett, Edvin Revazov. Es läuft die gesamte Saison, aber ich werde nur bei der Premiere spielen. Am 16. Mai werden wir im Großen Saal der Elbphilharmonie das neue Projekt “Silentiυm” präsentieren – ein Werk, das ich für Klavier und Streichorchester komponiert habe. Der herausragende Tänzer und Choreograf Edwin Revazov aus dem Hamburg Ballett von John Neumeier hat basierend auf meiner Komposition ein Ballett geschaffen, das als neue Produktion mit seiner Kompanie „Hamburger Kammerballett“ uraufgeführt wird. In diesem Ballett treten junge, talentierte ukrainische Tänzer auf, die derzeit in Hamburg leben und arbeiten.
Was mich an der Hanse und Norddeutschland fasziniert, nun ich wohne mittlerweile länger in Hamburg als in Belarus (lacht), fast 25 Jahre, und ich habe mich in der Zwischenzeit an die Mentalität gewöhnt und an die Leute, die hier leben. Sie sind zwar zurückhaltend und man braucht etwas Zeit, um in Kontakt zu kommen, aber wenn du erstmal drin bist, dann spürst du auch die Warmherzigkeit.
Und zu den Projekten in Hamburg ist es auch wichtig zu erwähnen, dass noch ein weiteres wichtiges Projekt kommt, und zwar im Komponistenquartier. Das ist ein interessanter und historischer Ort, ein Museum für Komponisten in Hamburg. Dieses Museum feiert zehnjähriges Jubiläum und ich habe ein neues Werk “Duell” komponiert als Auftragswerk. Das kommt dann in Hamburg als Premiere. Dieses Komponistenviertel steht für die Komponisten, die damals in Hamburg gewohnt haben oder geboren wurden: Mendelsson, Mahler, Telemann, Brahms und so weiter. Das vereint dieses ganze Museum und es ist eine Ehre für mich, dass ich da auch ein Werk schreiben darf.

Dein aktuelles Projekt steht ganz im Zeichen von Johann Sebastian Bach mit „Bachomania“, dabei haben wir in der klassischen Musik viele große Namen: Beethoven, Mozart, Vivaldi, Chopin… was fasziniert dich insbesondere an Bach, warum hast du dich für ihn entschieden?
In der Tat gibt es unzählige geniale Komponisten und bei jedem Komponisten findet man immer etwas Besonderes. Bach legt für viele Musiker den Grundstein. Es ist ein Fundament, aus dem du die ganze Inspiration und Herausforderung ziehen kannst. Auf meinen Konzerten sage ich immer so einen lustigen Spruch „nicht alle Musiker glauben an Gott, aber alle Musiker glauben an Bach“ und bei Bach findest du alle Facetten. Du musst nicht unbedingt religiös sein, aber die Tiefe und unendliche Suche nach der Kunst, die dich über deinen Alltag hinaus bringt, das ist immer so etwas, was Bach in der Musik immer hatte. Wie bei jedem genialen Komponisten wirst du bei diesem Komponisten nie aufhören, etwas zu entdecken. Selbst wenn du dein ganzes Leben lang gespielt hast, man findet immer etwas Neues, etwas Besonderes, vielleicht noch für dich eine Message, wie du mit dieser Musik an die Menschen herantreten kannst. In den letzten vier, fünf Jahren habe ich dann auch immer Werke von Bach gespielt und so kam die Idee, für sein 340. Jubiläum 2025 auch in der Laeiszhalle etwas zu machen. Ich habe das erstmal im kleinen Rahmen gemacht, aber Irina meinte wir sollten das auf die größere Bühne bringen.
Im Rahmen von „Bachomania“ betitelst Du, dass Klassik auf Moderne trifft. Auf dieses Phänomen treffen wir in der Musik allgemein immer wieder. Bei so einer Betitelung denke ich an die Neuauflage des OSCAR nominierten Lieds „Vois Sur Ton Chemin“ aus dem Film „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ (2004). Manch anderer würde ein anderes Beispiel nennen. Braucht die Musik das oder wollen Künstlerinnen und Künstler einfach ihre eigene Interpretation von Liedern, die sie gut finden, herausbringen?
Ich glaube, es ist sogar notwendig, dass ein Künstler seine eigene Interpretation gibt, sonst wird es ganz schnell langweilig. Denn du hörst, wenn etwas lediglich eine Kopie von etwas ist, welches bereits tausend Mal gespielt wurde. Als ich angefangen habe, mich mit Bach zu beschäftigen, habe ich darüber nachgedacht, was ich anders machen kann als das, was die anderen schon haben. Das ist die große Herausforderung: von Bach wurden unzählige Aufnahmen und Bearbeitungen und alles Mögliche bereits gespielt, das ist klar. Aber dann kam mir die Idee, Stücke zu nehmen, die Bach ursprünglich nicht für das Klavier komponiert hatte, sondern für andere Instrumente: für das Cello, für den Chor… und ich habe meine eigenen Bearbeitungen gemacht. Leute hören die Cello Suite, welches das berühmteste Prelude aus der Suite G-Dur von Bach ist, aber es wird nicht am Cello gespielt, sondern am Klavier. Ein anderes Beispiel ist sein berühmtes „Jesus bleibet meine Freude“. Ein Choral, welches ich nehme und über dieses Thema improvisiere. Da kommt noch eine Improvisation über die Buchstaben B A C H. Jeder einzelne Buchstabe seines Nachnamens entspricht einem Ton in der Musik und diese kannst du nehmen und ein kleines Thema spielen und improvisieren. Sowas kann man dann auch als „Klassik trifft Moderne“ bezeichnen, also Klassik und moderne Interpretation. Ich habe sogar eine kleine Überraschung: Ich werde ein Stück von Bach in Jazz spielen, was Leute sehr mögen. Im zweiten Teil des Konzerts spiele ich auch eigene Werke, die wiederum von Bach oder dem Baroque oder alter Musik inspiriert wurden und so machen wir eine schöne Brücke über 300 Jahre hinweg von Bach bis zur heutigen Zeit.
Kann man eine Modifikation eines bereits existierenden Stücks überhaupt sein eigenes Werk nennen?
Man kann eine Modifikation natürlich nicht sein eigenes Werk nennen, aber unsere Aufgabe als Interpret ist, etwas zu finden in dieser Musik oder auch der Musik von jedem anderen Komponisten und es zu interpretieren. Und das hängt von vielen Faktoren ab: von deiner Erfahrung, von deinem Handwerk, von deiner Fantasie, da kommt noch Charisma auf die Bühne, wie du diese Musik ans Publikum bringen kannst. Es reicht nicht, wenn ich zuhause schön spielen kann, aber wenn ich ans Publikum komme, muss ich auch künstlerisch etwas anbieten. Von daher ist es klar, man inspiriert sich von dieser Musik. Man könnte natürlich andersrum denken „ich spiele 1:1 das Original, was viele klassische Musiker machen?“. Da gibt es ein großes Beispiel von Gould: Leute gingen damals zum Konzert und konnten kaum die Musik von Bach erkennen. Er interpretierte das anders als zuvor.
Für „Bachomania“ war mein Anliegen nicht Stücke zu spielen, die bereits tausend Mal gespielt wurden, sondern wie kann ich Stücke finden, die ich selbst bearbeiten kann, aber trotzdem von Bach kamen und diese Atmosphäre von ihm übermitteln. Vielleicht einen bestimmten Teil anders machen. Es gibt beispielsweise Stücke, bei denen ich improvisieren kann. Das ist schon etwas, wo du sagst, dass du anders an die Materie rangehst. Um es einfach und kurz zu beschreiben: Die Leute sollten kommen und sich das selbst anhören (lacht) und eine eigene Meinung bilden.
Vielen Dank an Leon Gurvitch für diese besonders inspirierenden Worte.
Das nächste Konzert von Leon Gurvitch:
Sa. 29.03.2025, 19:30h – Theater Lübeck,
Großes Haus – Ballettabend „Der flüchtige Augenblick“, Choreografie „Kintsugi“ von Edvin Revazov (1.Solist Hamburger Ballett John Neumeier) mit Musik von Leon Gurvitch (Komponist selbst am Flügel bei der Premiere). https://www.theaterluebeck.de/produktionen/der-fluechtige-augenblick_2024-25.html
[…] der Komponist Leon Gurvitch [Fall4Me führte bereits ein umfangreiches Exklusivinterview mit ihm hier] um 18:00 Uhr seine Kammeroper “Charms”. Dieses wurde als AfterWork-Event […]
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[…] in einem Exklusivinterview mit Fall4Me (das vollständige Interview gibt es hier lesen: Teil 1, Teil 2, Teil 3) vorstellte, nannte er genau dieses Zitat. So zogen sich weitere bekannte Phrasen durch den […]
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[…] und Pianist wie Leon Gurvitch mir erzählt (und allen anderen auf diesem Wege im Interview hier auch), dass er für das Jubiläum des Komponistenquartiers Hamburg, der Ruhmeshalle namhafter […]
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